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Gutes Leben für alle, statt Dolce Vita für wenige – ein Rückblick zur Buen Vivir-Woche

Von 20.-29. April fand die von FairBindung e.V. organisierte Veranstaltungswoche zum Thema ‚Buen Vivir’ statt. Bei zahlreichen Workshops, Vorträgen und Filmvorführungen konnte sich ein Bild vom lateinamerikanischen Konzept des guten Lebens gemacht werden. Wir ziehen zusammen mit Robin Stock, dem Promoter für zukunftsfähiges Wirtschaften jenseits des Wachstums bei FairBindung und Organisator der Woche, ein Resümee.

von Alexander Wenzel
Themen Gesellschaft Solidarische Ökonomie Wirtschaft
24 Mai 2017

Das ‚Buen Vivir’ beziehungsweise ‚Sumak Kawsay’ auf Quetchua ist ein Konzept des guten Lebens, welches aus dem Anden-und Amazonasraum kommt und dort ein zentrales Prinzip in der Weltanschauung indigener Gruppen darstellt. Neben einem solidarischen Miteinander der Menschen steht beim ‚Buen Vivir’ ein Leben in Harmonie und Einklang mit der Natur im Mittelpunkt, weshalb es auch als Gegenmodell zum westlichen Entwicklungsmodell gesehen werden kann. Das ‚Buen Vivir’- Konzept wurde 2008 auf Initiative von Alberto Acosta, dem damaligen Präsidenten der verfassungsgebenden Versammlung, als Staatsziel in der Verfassung von Ecuador verankert. Diesem Beispiel folgend hat das ‚Sumak Kawsay’ 2009 auch Einzug in die Verfassung Boliviens gehalten.

Um das ‚Buen Vivir’ bekannter zu machen und Inspirationen für ein Leben jenseits von Wachstum, Konsum und Konkurrenz zu liefern, wurde von FairBindung e.V. zusammen mit zahlreichen Partnern eine ‚Buen Vivir’-Themenwoche organisiert. Höhepunkt der Veranstaltungswoche war die Konzertlesung von Alberto Acosta zusammen mit der Musikgruppe ‚Grupo Sal’. Acosta, der als geistiger Vater des ‚Buen Vivir’ gilt, gab Einblicke in das ‚Buen Vivir’ - Konzept und berichtete über seine Erfahrungen in der politischen Umsetzung.

Mit Robin Stock, dem Organisator der Woche, sprachen wir über die ‚Buen Vivir’-Woche:

BIW: Was hat dich/euch dazu bewegt eine Veranstaltungswoche zum Thema ‚Buen Vivir’ durchzuführen?

R.S.: Mein ganz ursprünglicher Ansatz war, dass ich mich selber mehr mit ‚Buen Vivir’ beschäftigen und in diese ganze Debatte um eine Welt jenseits des Wachstums auch mal eine Südperspektive reinbringen wollte. Wir kommen ja auch aus einer entwicklungspolitischen Ecke und ich hatte in Erinnerung gehabt, dass damals bei der Degrowth-Tagung in Leipzig Alberto Acosta auch da war und er so sagte, euer Ansatz von Degrowth ist total interessant, aber es ist ein Ansatz für den Norden. Aufhören zu Wachsen ist ein Ansatz für Länder, die eine lange Phase des Wachstums hinter sich haben und wo die Menschen die Grundbedürfnisse befriedigt haben. Mich hat einfach interessiert, was gibt es denn für ein Pendant im globalen Süden. Was gibt es vielleicht für Ansätze, wo wir auch was von lernen können. Der Degrowth-Diskurs kommt ja aus dem Norden. Wie kann man den Spieß umdrehen und schauen, was wir von dort lernen können, wo wir sonst immer europäische Entwicklungskonzepte hinschicken wollen.

Dies war mein ursprünglicher Ansatz und so kam ich auf Alberto Acosta als eine der prominentesten Personen, die sich mit dem Thema auseinandersetzen und der ja auch selber dadurch, dass er in Deutschland gelebt hat, immer diesen Bogen schlagen kann von ‚Buen Vivir’/‚Sumak Kawsay’ als indigene Philosophie, die nach Deutschland kommt. Ich dachte, es ist schade nur Alberto Acosta zu Wort kommen zu lassen und dadurch ist die Idee entstanden, nicht nur eine Veranstaltung, sondern eine ganze Woche dazu zu machen, wo unterschiedliche Menschen und Perspektiven zu Wort kommen. Gleichzeitig war es eine super schöne Gelegenheit ganz unterschiedliche Akteure zusammenzubringen. Zu sagen, nicht nur FairBindung macht das, sondern wir holen ganz unterschiedliche Menschen und Gruppen, die sich in Berlin und bundesweit aktiv einsetzen für eine andere Wirtschaft und Gesellschaft – von Berlin im Wandel, als ein Akteur der Basisarbeit macht, bis hin zum Forschungs- und Dokumentationszentrum Lateinamerika, die eher den Lateinamerika-Bezug haben. Letztendlich waren es fast 20 Gruppen, die die Woche gemacht haben und auch ihre unterschiedlichen Herangehensweisen und Sichtweisen mitgebracht haben.

BIW: Was war dein persönliches Highlight der Woche?

R.S.: Mein persönliches Highlight war ein Workshop, den wir zum Thema ‚Tiefenökologie’ und ‚Buen Vivir’ hatten mit Dominik Werner vom Transition-Theater aus Marburg. Das war ein ganzer Tag mit einer relativ kleinen Gruppe und war dementsprechend natürlich viel intensiver und tiefgehender als ein 2-Stunden-Abendprogramm mit Alberto. Was ganz spannend war, weil sich auch Alberto darauf bezieht und sagt, ein Pendant zum ‚Buen Vivir’, auch als Philosophie, sieht er am ehesten im europäischen Ansatz von der Tiefenökologie von Arne Næss aus Norwegen. Dieser setzt auch ganz stark auf eine Beziehung zwischen Mensch und Mitwelt. Zu sagen wir Menschen sind ein Teil dieses lebenden Organismus Erde und das nicht nur kognitiv zu begreifen, sondern auch emotional spüren zu können und da wieder in eine Beziehung zu gehen, das fand ich persönlich unheimlich bereichernd und hatte das Gefühl, das ist etwas was mir auch in meinem Alltag, am Schreibtisch sitzend und so eine Woche organisierend, gefehlt hat. Da habe ich auch eine Erdung und Tiefe drin gehabt. Dann war natürlich auch ein Highlight die Veranstaltung mit Alberto Acosta, das war ja das ganz große, zentrale Element. Ein Überraschungsmoment war vielleicht noch unsere Filmvorführung in der Regenbogen-Fabrik von dem Film ‚La Buena Vida’. Das war so ein bisschen der Publikumsmagnet – es waren 120 Leute da und am Ende mussten wir die Türen zumachen und den Leuten sagen, dass leider niemand mehr rein pass. Da war ich einfach total überrascht, wie viele Menschen sich für den Film interessiert haben. Und wir hatten danach auch noch ein total spannendes Gespräch mit den AktivistInnen, die noch da waren von Powershift, Urgewalt und Kolko.

BIW: Alberto Acosta meinte bei seiner Lesung, dass er keine konkreten Tipps geben kann und man das ‚Buen Vivir’-Konzept auch nicht eins zu eins in die westliche Welt übertragen kann. Gibt es trotzdem Ideen oder Inspirationen, die wir vom ‚Buen Vivir’-Konzept und der Woche mitnehmen können?

R.S.: Ganz ehrlich fand ich die Ausführungen von Alberto Acosta teilweise zu abstrakt. Ich hatte mir da mehr erhofft. Vielleicht ist es auch die enttäuschte Erwartung, nicht das Patentrezept bekommen zu haben, wie jetzt das gute Leben für alle Menschen zu verwirklichen ist – ganz so naiv war ich natürlich auch nicht, aber ich hatte mir schon ein bisschen mehr Inspiration gewünscht. Das hatte ich am Anfang vergessen zu sagen, eine der Motivationen (Anm.d.R.: für die Woche) war auch, wir beschäftigen uns die ganze Zeit mit Kritik an – Kritik an unserem Wirtschaftssystem, Kritik an der Art, wie wir Gesellschaft leben - und der Wunsch auch mal eine positive Vision zu zeichnen und deshalb auch der Ansatz ‚Buen Vivir’, ein gutes Leben oder gut leben. Und ich glaube, Inspiration hätte da noch mehr rumkommen können, das hätte ich mir zumindest gewünscht. Was ich auf jeden Fall daraus mitnehme ist, dass der Ansatz und auch die Kommunikation, das was wir wollen, nicht abstrakt als Postwachstum, Degrowth oder dergleichen zu verpacken, weil das ganz einfach nur eine ganz kleine Gruppe von Menschen überhaupt aufhorchen lässt. Während ich glaube, dass gutes Leben etwas ist, das als Ansatz und Rahmen sehr viel breiter funktionieren kann und wo man glaube ich, sehr viele Menschen da abholen kann, wo sie stehen und wo es ganz schnell einen persönlichen Bezug dazu gibt. Jeder und jede von uns möchte gut leben – behaupte ich einfach mal und dann über das individuelle, wie möchte ich für mich gut leben hinzu, wie möchtest du eigentlich gut leben in den Dialog zu kommen und dann festzustellen, ok, wenn wir alle gut leben wollen, dann müssen wir vielleicht auch achtsamer mit unseren Ressourcen, mit unseren Mitmenschen umgehen.

Ich glaube, über diesen Frame ‚gutes Leben’, über dieses Gedankenkonstrukt kann man ganz viel machen und auch ganz viele Menschen zusammenbringen und das ‚Buen Vivir’ erweitert das für mich noch einmal ganz stark um eine Weltsicht, die für mich neu und unbekannt ist. Indigene Kosmovision ist total interessant und mit Sicherheit auch bereichernd. Da fehlt dann vielleicht auch mal ein bisschen das, was ich mir erhoffte hatte – konkretere Vorstellungen und Beispiele von, wie kann den gutes Zusammenleben auch in der Praxis hier verwirklicht werden. Ein Punkt, der mir noch einfällt: Was total gut ist, ist dieses gute Leben nicht als individuellen Lebensweg zu sehen, sondern als gesamtgesellschaftliches Projekt. Es geht nicht nur um gutes Leben für dich und mich, sondern ein gutes Leben für uns alle. Da schließ ich dann auch die Mitwelt mit ein und meine nicht nur die Menschen, sondern einen Planeten, wo alle Lebewesen gut leben können und das finde ich steckt im ‚Buen Vivir’ ziemlich stark drin. Da sind wir auch wieder bei der Kritik – eine Kritik am individualistischen Gesellschaftsbild, in dem wir heute verharren. Dolce Vita – das süße Leben, das stellen wir uns so vor, Cocktail an der Strandbar, Karibikdampfer, aber das ist einfach nicht möglich für alle Menschen. Das als kollektiven Prozess und kollektive Herausforderung zu sehen, finde ich, steckt ziemlich stark im ‚Buen Vivir’-Ansatz.

BIW: Ist mit dem der zu Ende gegangen ‚Buen Vivir’-Woche das ‚Buen Vivir’-Thema für dich erst einmal abgeschlossen oder hat die Woche auch zu neuen Ideen bezüglich Veranstaltungen oder Kooperationen geführt?

R.S.: Das hoffe ich ganz stark. Es ist aber wohl noch etwas zu früh, dies einschätzen zu können. Ich habe aber schon von einzelnen gehört, dass zwischendurch und vielleicht gar nicht so offen sichtbar ganz viel passiert ist. Wir haben uns zum Beispiel kennengelernt; wir kannten uns vorher noch nicht – da ist also die Kooperation. So habe ich neue Institutionen, als auch neue Menschen kennengelernt und damit ist glaube ich, der erste Schritt geebnet für Neuzusammenarbeiten – natürlich nicht nur zwischen uns (Anm.d.R.: FairBindung) und den anderen Organisationen, sondern auch die Organisationen untereinander. Dazu diente auch der Brunch. Damit sich all die Beteiligten kennenlernen können und vielleicht auch in einem informelleren Setting schauen können, wer hat Lust mit wem was zusammen zu machen und wo ergeben sich Synergien. Ich würde das nicht unterschätzen, wie viele Türen da aufgegangen sind und bin guter Hoffnung, dass da noch mehr daraus entstehen wird.

BIW: Warst du zufrieden mit dem Ablauf der Woche und auch mit der Anzahl der Teilnehmer?

R.S.: Naja, ich bin natürlich auch total verhaftet in dieser mentalen Infrastruktur von ‚höher, schneller, weiter, mehr’ und klar eine Stimme in mir sagt auch, wäre schon schön gewesen, wenn irgendwie mehr Medien darauf angesprungen wären und wär auch schön gewesen, wenn bei Alberto Acosta 500 Leute im Saal gewesen wären und nicht nur 250. Also diese Stimme gibt’s in mir, aber ehrlich gesagt bin ich total zufrieden. Total zufrieden, dass die Woche überhaupt so zustande gekommen ist, dass so viele Gruppen sich daran beteiligt haben und dass alle Veranstaltungen durchweg super gut besucht waren. Die waren nicht alle auf groß gemacht, es gab auch explizit Formate, die in die Tiefe gehen wollten. Diese Tiefe war auch ein Ziel und nicht nur, ganz viele Menschen zu erreichen. Ein Kritikpunkt, den ich an mich selber habe, ist, gerade weil gutes Leben ein Türöffner für viele Menschen sein könnte, hätte man das Ganze noch viel breiter öffnen können. Man hätte durchaus die Blase von umwelt- und entwicklungspolitischen Gruppen und Menschen noch einmal verlassen können und stärker einbinden können die Recht auf Stadt-Bewegung, irgendwelche Kiez- und Basisbewegungen, die sich gegen Verdrängung einsetzen, die sich gegen Rassismus engagieren - die aber alle letztendlich an genau der gleichen Frage, wie können wir ein gutes Leben für uns und für andere Menschen, andere Lebewesen erreichen, arbeiten. Da war aber irgendwann einfach mein Limit erreicht, was ich umsetzen konnte. Aber wenn das irgendwann noch einmal in eine zweite Runde gehen sollte, wäre das mein Anspruch, das Ganze noch einmal viel breiter zu denken und damit vielleicht, nicht mehr, aber auch andere Menschen zu erreichen.

BIW: Welchen Beitrag kann das ‚Buen Vivir’-Konzept zum ‚Wandel’ leisten?

R.S.:
Ich glaube als allererstes ist es ein Bewusstseinswandel. Also was ich schon vorhin sagte, die gedankliche Einbahnstraße zu verlassen; nicht immer davon auszugehen, dass die Antworten hier und aus unserer Denkweise kommen müssen. Wir können nicht mit der gleichen Denkweise, wie wir das kapitalistische Wachstumsmodell erschaffen haben die Alternative dazu suchen. Sondern wir müssen vielleicht ganz andere Denkweisen dafür erst einmal entwickeln, ganz andere Herangehensweisen. Dann ist ein Ansatz, der aus hundertjähriger Tradition, weit vor der kapitalistischen Zeit und weit vor dem Kolonialismus in Lateinamerika entstanden ist und Praxis wurde, vielleicht eben so eine Herangehensweise, um unsere Denkweise mal zu hinterfragen und ganz anders zu denken. Also da würde ich sagen, Bewusstseinswandel ist vielleicht die allerwichtigste Ebene.

Titelbild
Urheber: Nicolai Herzog

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