Sie kommen aus San Francisco und schwärmen aus in die globalisierte Geschwindigkeitstotale, die sich Planet Erde nennt. Hier buhlen Großkonzerne um die Gunst der Netze; Internetze und Verkehrsnetze bedeuten Macht und dessen Verhältnis ist umso unausgeglichener, je schneller Informationsübertragung, knappe Güter und Ressource Mensch als Transportgut in Besitz einer definierten Einheit seinen Ort verändern. Die kritische Masse trägt diesen Kampf auf den Straßen der Städte aus, ist gelebte Utopie, wie große Denker*innen sie in Büchern skizzieren und manifestieren.
Am 25. September 1992 treffen sich Radfahrer zu einem Commute Clot, zunächst sind es nur ein paar Dutzend. War es das Bedürfnis der freien Bewegung oder der Wunsch, sich zu organisieren, der motorisierten herrschenden Kraftwagenklasse ein Gegengewicht zu setzen? Der Begeisterung am Rad folgend, treffen sich bald darauf einige Teilnehmer*innen in einem Fahrradladen, die politische Dimension ihrer Leidenschaft entdecken sie in „Return of the Scorcher“. In dem Dokumentarfilm über weltweite Radbewegungen erzählt der Cyclist George Bliss von seiner Beobachtung einer Eigenheit im chinesischen Verkehr. Entgegen jedwediges Regelsystem und ohne Signalzeichen formieren sich die Radfahrer*innen spontan zu einer Kraft - einer „kritischen Masse“. Critical Mass, wie sich die schnell ausbreitende neue Bewegung fortan nennt, beschreibt das Moment, in dem das individualisierte Subjekt, indem es sich mit Anderen vereinigt, politische Wirksamkeit im Raum entfaltet. Dies geschieht, indem die scheinbar natürlichen Gesetze des Straßenverkehrs in Frage gestellt werden. Jeden letzten Freitag im Monat demonstrieren die Radfahrer*innen ihre Macht, indem sie sich als Schwarm durch die Straßen bewegen.
Fünf Jahre später ist die Bewegung in Berlin angekommen. Hier treffen sich regelmäßig hunderte bis tausende Menschen zu Touren quer durch die Stadt, zuletzt wurden 2800 Teilnehmer*innen gezählt (Stand: Juni 2016). Nach §27 StVO bilden 16 Radfahrer*innen einen Verband, der dazu befähigt, sich zu zweit nebeneinander auf der Fahrbahn zu bewegen. Ziel der Berliner Critical Mass ist es, den Straßenverkehr nicht zu blockieren, sondern dem heimlichen Paradigma der „autogerechten Stadt“ zu widersprechen.
Sie sympathisieren mit der Yorck59 und Reclaim-the-Streets. Sie fordern Flächengerechtigkeit und folgen damit einer grundlegenden Frage, der Philosophen wie Antonio Gramsci, Henri Lefebvre und Michel Foucault schon nachgegangen sind. Sie radeln um die Welt für eine starke Zivilgesellschaft. Aus der gegenwärtigen Nutzung von Straßennetzen gehen maßgebend zwei Interessenskonflikte hervor, zum Ersten ein in Zügen darwinistisch anmutendes System, ein Selbstverständnis der Verkehrsteilnehmer*innen, das die Überlegenheit der Stärkeren zur Annahme hat. Und dann die Frage nach dem Gebrauchswert des Raums für den Menschen – in diesem Fall die Etatisierung eines neoliberalen Nutzungskonzepts des öffentlichen Raums als Verkehrsraum. Innerhalb dessen verlangt die kritische Masse nach Gerechtigkeit und hinterfragt den Verkehrsraum in seiner Existenz.
Critical Mass ist eine neue soziale Bewegung - eine politische Kunst der Versammlung – die kein feststehendes politisches Programm fährt, sondern dynamisch miteinander im öffentlichen Raum agiert. Öffentlicher Raum ist, mit Critical Mass gesprochen, immer von Menschen gemeinsam geschaffener Raum, durch Mobilisierung, Versammlung, Widerstand, Okkupation von Stadt. Mit anderen Worten: ein Raum, der nicht von Menschen in Anspruch genommen wird, verliert seine Eigenschaft der Öffentlichkeit. Wäre es im Sinne des Gemeinwohls nicht erstrebenswert, eine der drei Auto- durch eine Fahrradspur zu ersetzen oder stattdessen einen Stadtacker zu bearbeiten und Verkehrsinfrastruktur so umzugestalten, dass sie den Bedürfnissen aller gerecht wird? Vive la Vélorution! Critical Mass Berlin – Fr., 26. August 2016, 20 Uhr Mariannenplatz.
(Bild: Wikipedia Commons)