Urbanstraße 100, zweiter Hinterhof rechts, im Keller. „Da wo der Bewegungsmelder angehen müsste“. Herbie, Alter unschätzbar, lacht laut und dreckig. Im Vergleich zu draußen, wo heute überraschend die Sonne über Neukölln prasselt, ist es hier im Keller angenehm kühl. Das Lager ist überschaubar und gleichzeitig gut gefüllt: Große Mengen Nudeln liegen eingeschweißt neben Kisten mit Flaschen kretischen Olivenöls. Ein paar bedruckter T-Shirts hängen im Raum und ein gut sortiertes Vorzeige-Regal, gleich neben dem Eingang, führt ein Sortiment erlesener Kleinstprodukte: Schafsmilchlikör und Kräutersalz und gentechnikfreies, nixtamalisiertes Maismehl. Ja, fragen Sie ruhig nach dem: gentechnikfreien, nixtamalisierten Maismehl.
Das ist Schnittstelle, dieser Lagerraum, der auch ein Laden ist und Herbie. Der Mann positioniert sich vor dem Regal, drapiert nochmal die Leuchte und räuspert sich. Es geht um Lebensmittel, wo sie herkommen, unter Bedigungen unter denen sie hergestellt werden. Außerdem geht es darum, sie in Berlin auf möglichst solidarische Weise zu vertreiben. Im Unterschied zu einer gewöhnlichen Handelskette - Sie wissen schon, mit vielen Zwischenhändlern - unterhält Schnittstelle direkten Kontakt zu den Herstellern. Zu der Lohn-Mosterei in Ketzür in Brandenburg, zur Seifenfabrik Vio.Me, einer besetzten Fabrik in Thessaloniki, die nachhaltige Seife produziert; zum Projekt Iris, solidarischer Hersteller von Tomatenpassata („con verdure“, „piccante“, „con basilico“) in Italien und zahlreichen weiteren Soli- und Öko-Projekten.
Schnittstelle besorgt Lebensmittel - Waren, von denen Sie vielleicht noch nie etwas gehört haben, aber vor allem solche des täglichen Bedarfs – das schließt sich nicht aus. Mit dem Lastenrad oder bei größeren Mengen mit dem Auto, versorgt Herbie in regelmäßigen Abständen seine Kund*innen mit Produkten von Kleinstproduzenten, Genossenschaften, solidarökonomischen Betrieben und Solawi-Höfen. Immer wieder montags hat das Depot im Keller geöffnet. Dann kaufen kritische Konsument*innen bei Herbie ein. Für die eigene FoodCoop, für die Kollektivkneipe, fürs Hausprojekt oder für sich allein. Seine Verbraucher*innen kennt Herbie ganz gut und auch untereinander wird vernetzt. Das mag, so werden Sie vielleicht einwenden, daran liegen, dass Herbies Kundenstamm nicht der allergrößte ist?
Aber Sie kennen das sicherlich - und hier holt Herbie auch mal die Keule raus: Handelskonzerne haben einen großen Einfluss auf das Angebot von Nahrungsmitteln. Lohndruck, nicht-ökologische Produktion, eine Reduzierung der Saatenvielfalt und ein vereinheitliches Angebot an Lebensmitteln im Supermarkt, sind Folgen eines streng profitorientieren und nicht nachhaltigen Wirtschaftens. Dieser Ökonomie möchte das Vertriebskollektiv - bestehend aus den Konsument*innen, den solidarischen Betrieben und Herbie - gerne entgehen, am Besten ihr etwas entgegen schleudern.
Zum Beispiel weiße Möhren, blauen Hokkaidokürbis, samenfeste rote Beete, roten Reis, schwarzes Qinoa. Lebensmittel, deren magische Buntheit jedoch nichts mit genetischer Bastelei zu tun hat. Auch dient es beileibe nicht nur dem Geschmacks-Training, sondern mischt den Boden auf, fördert seltenes Saatgut und erhebt Einspruch gegen die 3-Sorten-Äpfel-Politik im vernebelten Gemüse-Regal des Discounters. Herbie fragt: „Warum wurde früher viel mehr Spitzkohl verarbeitet als heute?“ und „Wo werden Nudeln produziert?“.
Rund 50 Abnehmer*innen eines Biodiversitäts-Abonnements erhalten derzeit regelmäßig eine Kiste frischen Gemüses und Obstes von vorzugsweise lokalen Höfen durch Schnittstelle. Am Anfang dürfte die Vielfalt an seltenen Sorten überfordern. Dem Abo liegt ein Beipackzettel bei, der über die ökonomischen Risiken und Bedingungen aufklärt, welche die landwirtschaftlichen Produzent*innen bei Ihrer Arbeit begleiten. Und dann gibt es natürlich auch Koch-Rezepte , um zu erfahren, was mit so einer Zuckerwurzel anzustellen möglich ist. Ökokiste fordert Einsatz, nicht nur im Topf. Kritische Konsumt*innen gibt es zu wenige, bedauert der Vertreiber. Zu aufwendig, zu teuer, zu unbequem?
Ein Räuspern, Kratzen am Kopf, ist imerhin schon eine ganze Weile her. Anno 2007: Jungspunt Herbie, Mitglied einer Foodcoop und Gründer eines Kneipenkollektivs, legt zusammen mit einigen Freund*innen das Fundament für das Vertriebskollektiv, in dieser Form neu und einzigartig in Berlin. „Wir wollten schnell langsam wachsen.“ Während Freund*innen in den folgenden Jahren allmählich Ausbildungen absolviert oder „Soz-Päd-Stellen“ angetreten haben, ist Herbie dabei geblieben und macht den Vertrieb seit fünf Jahren weitestgehend allein. Mit Selbstausbeutung hat das für ihn nichts zu tun, obwohl er vom Projekt allein nicht leben kann. Vielleicht auch gar nicht will, zu sehr ist er Idealist, zu viele Kompromisse kommen für ihn nicht in Frage. Lieber nimmt er den Keller, statt den Laden vorne an der Haupstraße.
Herbie, der Laden, das Lager, das alles fungiert als – nun haben Sie es erfasst! Als „Schnittstelle“ - als Mittler, der den Zwischenhandel mit Logistik- und Vertriebsunternehmen überflüssig machen soll und nebenbei solidarökonomische Strukturen fördert. Für den Konsumenten oder das beziehende Kollektiv bietet diese Art des Einkaufs unter anderem die Vorteile, eine bedarfsgerechte Auswahl und Menge an Lebensmitteln beziehen zu können, die wohlschmeckend, ökologisch und meist aus solidarisch, selbstorganisierten Betrieben oder Höfen kommt und diese Strukturen gleichzeitig unterstützt. Das geht über den Laden und ohne Onlineshop, trotzdem übers Netz, per (Rund)Mail oder einen Anruf bei dem Mann im Keller, der auch ein Büro hat.
Das Schnittstelle Vertriebskollektiv bietet während der Wandelwoche 2016, die am 8. September beginnt, zwei Touren an: Eine Fußtour beinhaltet den naheliegenden Themenkomplex „Lebensmittel*Landwirtschaft*Essen in der Stadt“; in einer zweiten Tour mit dem Titel „Aktivismus in die Suppe gespuckt – Lobbyismus und die Hürden des Kapitalismus“, befassen sich die Teilnehmer*innen mit den Stolpersteinen im Aufbau von alternativ-ökonomischen Strukturen.